- Die
Sonne -
Die Wissenschaft mag ja ganz
nett und nützlich sein, aber sie hat unseren Planeten in den letzten
500 Jahren in einen eher langweiligen Ort verwandelt. Seit - zum Beispiel
- verbreitet worden ist, daß es sich bei dieser Erde um ein kugelförmiges
Gebilde handelt, ist der Sonnenuntergang zu einer ganz profanen, physikalischen
Angelegenheit geworden.
Die alten Wotjaken - die
westlich des nördlichen Urals lebten, glaubten beispielsweise, daß
die Sonne allabendlich von einem riesigen Eisbären verschlungen wurde.
Das brachte den Stoffwechsel dieses armen Tieres dermaßen aus dem
Gleichgewicht, daß er - wie von der Tarantel gestochen - nach Osten
wetzte, um die Sonne dann am nächsten Morgen auf natürlichem
Wege wieder freizusetzen.
Etwas bizarrer waren da die
Jugakiren, die wiederum der Meinung waren, daß die Sonne von einem
buckligen alten Griesgram gewaltsam in eine Erdhöhle gezerrt und als
Herdplatte mißbraucht wurde. Der Göttin der Morgenröte
- die bei den Jugakiren von einem acht Meter langen Maulwurf verkörpert
wurde - konnte sich jedoch immer wieder in die unterirdischen Gemächer
des alten Misanthropen schleichen und die Sonne befreien. Anschließend
wurde die leuchtende Scheibe in einen licht-dichten Fellbeutel gepackt,
von der großen Zwiebelkrähe nach Osten geflogen und dort am
nächsten Morgen freigelassen. Diese These führte übrigens
dazu, daß das Wort "Höhlenbewohner" in vielen finnisch-ugrischen
Sprachen immer noch gleichbedeutend für "Sonnendieb" ist.
Die Markabylen - ein inzwischen
ausgestorbenes Volk der nördlichen Sahara - waren davon überzeugt,
daß die Sonne jeden Abend in einem großen Haufen Kameldung
versackte, während die Quenya-Pygmäen am Oberlauf des Kongo die
Sonne prinzipiell für eine verirrte Seele hielten, die irgendwann
wieder auf die richtige Bahn gebracht werden sollte. Die Quenya nämlich
waren fest davon überzeugt, daß die Götter die Sonne erschaffen
hatten, um die Nacht zu erleuchten. Tagsüber war es schließlich
hell genug, und die Sonne sollte ursprünglich dazu dienen, die nächtliche
Dunkelheit zu vertreiben. Der tückische Waldgott Djalumba jedoch lud
die Sonne zu einem nächtlichen Gelage und verwirrte ihre Sinne mit
einer wohldosierten Menge Alkohol. Der Effekt dieser Tat war, daß
die Sonne fortan permanent dann vom Himmel verschwand, wenn es sowieso
dunkel wurde. Und jahrhundertelang beteten die Quenya vergeblich, daß
die Sonne endlich wieder am Abend aufgehen würde.
Aber die skrupellose Wissenschaft
des Nordens hat all diese wunderbaren Mythen verschwinden lassen, was schließlich
zur Erfindung der Neonröhre und der Sommerzeit führte. Um wieviel
aufregender muß es dagegen früher gewesen sein, als kein Mensch
mit Gewißheit voraussagen konnte, ob es tatsächlich einen nächsten
Tag geben würde.
Allerdings hatte das natürlich
auch seine Schattenseiten: Etliche frühe Kulturen dieses Planeten
gingen daran zugrunde, daß irgendein blöder Prophet auf die
Idee kam, daß man die ganze Nacht hindurch jammern, flehen oder singen
müßte, um die verschwundene Sonne dazu zu bewegen, am nächsten
Morgen wieder über den Horizont zu kriechen. Weil nun das komplette
Volk die ganze Nacht mit beten, singen und opfern beschäftigt war,
breitete sich schnell eine bleierne Müdigkeit aus. Und bei der nächstbesten
Gelegenheit wurde die gesamte frühe Kultur von einem Volk überrannt,
das sich nicht weiter um den Sonnenaufgang scherte und deshalb erheblich
ausgeschlafener war.
Das war dann womöglich
auch der wirkliche Grund für das Aussterben der Dinosaurier: Irgendetwas
brachte die armen Viecher womöglich um ihren Schlaf. Sie wanderten
rastlos durch die dunklen Nächte des Karbon, fühlten sich am
nächsten Morgen wie gerädert und wurden über kurz oder lang
von den Säugetieren verdrängt, die die Fähigkeit besaßen,
nachts zu schlafen und sich jeden Morgen wie neugeboren zu fühlen.
Womit man mal wieder sieht, wohin Schlaflosigkeit führen kann. Ich
gebe zu: das ist eine etwas verwegene Theorie, aber ich hab' auch schon
schlimmere gehört. Und frei nach Sherlock Holmes, Dr. Stanislaus Lehmann,
Liebknecht Schuster und Edward A. Murphy sollte man auch in der Evolutionsgeschichte
die unwahrscheinlichen Lösungsvorschläge nie völlig ausschließen.